Was vom Alten Reiche blieb… Deutungen, Institutionen und Bilder des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Was vom Alten Reiche blieb… Deutungen, Institutionen und Bilder des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Organisatoren
Bildungswerk der Hanns-Seidel-Stiftung; Asche, Matthias (Eberhard-Karls-Universität Tübingen); Nicklas, Thomas (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg); Stickler, Matthias (Bayrische Julius-Maximilians-Universität Würzburg)
Ort
Bad Staffelstein
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.11.2006 - 17.11.2006
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Von
Andreas Neuburger, Universität Tübingen

Das von Joseph Görres besonders plastisch gezeichnete Bild des nach beinahe tausendjährigem Bestehen „sanft und selig an einer gänzlichen Entkräftung“ verschiedenen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation und die (trotz vereinzelter Neuansätze) noch immer dominante Forschungsthese vom sang- und klanglosen Untergang des Alten Reiches boten auch im Jubiläumsjahr 2006 bislang nur wenig Raum für Überlegungen zur fortdauernden Wirkung des Reiches im 19. und 20. Jahrhundert. Mit Blick auf das bevorstehende Ende des Jubiläumsjahres und dem Ziel, diese Leerstelle mit ersten Inhalten zu füllen, ging die Tagung der Frage nach, ob das Reich aufgrund seiner oft beschriebenen tiefen inneren Zerrüttung tatsächlich ein folgenloses Ende fand, oder ob sich über das Jahr 1806 hinaus nicht doch Hinweise oder Belege für den langen Atem des Alten Reiches ins 19. und sogar ins 20. Jahrhundert hinein finden lassen.

Die von Matthias Asche (Eberhard-Karls-Universität Tübingen), Thomas Nicklas (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) und Matthias Stickler (Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg) in Kooperation mit dem Bildungswerk der Hanns-Seidel-Stiftung organisierte Konferenz näherte sich ihrem Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven und in interdisziplinärem Ansatz mit dem Versuch, Deutungen, Institutionen und Bilder des Alten Reiches in Phänomenen und Strukturen des 19. und 20. Jahrhunderts festzumachen, beziehungsweise diese auf ihr Erbe aus dem frühneuzeitlichen Reich zu untersuchen.

Mit einer differenzierten Darlegung der Deutung des Alten Reiches in der Historiographie des 19. Jahrhunderts umriss Hans-Christof Kraus (München) am Beispiel ausgewählter Historiker nicht nur die lange Zeit dominante Perspektive der kleindeutsch-borussischen Schule, sondern stellte dieser Tradition auch Interpretationen anderer Historiker (großdeutsch-katholische Richtung, Konservative, Liberale) gegenüber. Der Befund erwies sich dabei als einhellig, indem alle behandelten Historiker ein mehr oder weniger düsteres Bild vom Alten Reich zeichneten und im Westfälischen Frieden den Höhepunkt des nationalen Niedergangs verorteten. Unterschiede ergaben sich zwischen den einzelnen Vertretern vor allem bei der Frage, inwieweit die Kritik am Alten Reich mit einer Kritik an Österreich und den Habsburgern (borussische Historiker), oder aber an Preußen (großdeutsche Historiker wie Gfroer und Höfler oder süd- und mitteldeutsche Historiker wie Bülau und Schlosser) verknüpft wurde. Darüber hinaus wurde für Karl Biedermann als Beispiel eines liberalen Historikers gezeigt, wie eine kritische Interpretation des Alten Reiches auch als Folie zur Kritik an den herrschenden Verhältnissen des 19. Jahrhunderts verwendet werden konnte.

Einen Gegenakzent zu der heute in Deutschland und Österreich gepflegten Sicht zweier voneinander getrennter „Geschichten“ setzte Brigitte Mazohl-Wallnig (Innsbruck), indem die implizite „translatio imperii“ des Heiligen Römischen Reiches auf das „Kaisertum Österreich“ und der Ursprung der Reichsidee der Habsburgermonarchie aus der Tradition des Alten Reiches herausgearbeitet wurde. Dabei wurden nicht nur Kontinuitäten in Heraldik und herrscherlicher Selbstdarstellung aufgezeigt, sondern auch der gegenüber dem Deutschen Bund erhobene Anspruch der Habsburgermonarchie auf das Erbe des Alten Reiches. Trotz der Behauptung eines stillschweigenden Übergangs des römisch-deutschen ins österreichische Kaisertum wurde das Alte Reich während des 19. Jahrhunderts zunehmend aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt, wie an der Gestaltung des Wiener Heldenplatzes gezeigt wurde. Hier lag auch der Ansatz für die Hauptströmung der österreichischen Historiographie, welche diese Traditionslinie verwirft, das moderne Österreich zugunsten einer „österreichischen Reichsgeschichte“ so weit wie möglich aus dem Kontext des Alten Reiches herauszulösen versucht und schließlich als Schlusspunkt in eine „kleinösterreichische“ Geschichtsschreibung nach 1945 einmündet. Hierzu skizzierte der Vortrag den genauen Gegenentwurf, indem in der Betonung der vielfältigen Formen bewusster Anknüpfung Österreichs an das Alte Reich auch weiter für eine Gesamtinterpretation der deutschen und österreichischen Geschichte plädiert wurde.

Verena von Wiczlinski (Würzburg) nahm die Alternative zwischen den Optionen Bundesstaat und Staatenbund in der deutschen Geschichte zum Anlass, die unterschiedlichen Traditionen föderativer Staatsorganisation zwischen Altem Reich und Bundesrepublik in den Blick zu nehmen. Ausgehend von der hilflos anmutenden staatstheoretischen Diskussion um die Einordnung des Alten Reiches in die frühneuzeitliche Staatsformenlehre wurde nach Kontinuitäten föderaler Ordnungsmodelle über das Jahr 1806 hinaus gesucht. Den Kern des Problems bildete dabei im 19. Jahrhundert zunächst die Frage der Verortung der Souveränität zwischen der Gesamtebene und den Gliedstaaten. Ferner war stets zu klären, welches institutionelle Arrangement den projektierten Verfassungsentwürfen am dienlichsten war, welche Verflechtungsdichte erwünscht, kurz, wie viel Homogenität annehmbar oder durchsetzbar war. Im Ergebnis zeigten sich in institutioneller Hinsicht bedeutende Prägungen durch das Alte Reich, etwa in dem immer wieder aufgegriffenen (und bis heute angewendeten) Bundesratsmodell, also der Vertretung der Regierungen der Gliedstaaten beim Gesamtstaat, wie es in leicht abgewandelter Form auch im Reichstag des Alten Reiches erkennbar war. Darüber hinaus konnte festgestellt werden, dass auch das Denken in föderativen Kategorien als Kernbestandteil der politischen Kultur Deutschlands bereits im Alten Reich seine Keimzelle fand.

Ausgehend vom Deutungsbefund des ersten Vortrags, einem schwachen und innerlich zerrütteten Reich, zeigte sich das Deutschlandbild der französischen Rechten zwischen der zweiten Hälfte des 19. und (zumindest) der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie es von Thomas Nicklas (Erlangen) instruktiv am Beispiel Jacques Bainvilles und Charles de Gaulles gezeigt wurde. Die aus deutscher Perspektive geschmähte Machtlosigkeit des Alten Reiches erfuhr dabei aus französischer Sicht eine sehr positive Bewertung, indem die Unfähigkeit des Reiches zur Machtpolitik nach außen nicht nur als die denkbar beste Garantie für die französischen Sicherheitsinteressen interpretiert wurde, sondern Frankreich zusätzlich Raum für unerschöpfliche bündnispolitische Optionen bot, so dass sich die Zerschlagung des Reiches durch Bonaparte als schwerer Fehler für die langfristige Sicherung französischer Interessen darstellte. Obwohl diese Perspektive seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend anachronistisch wurde, blieb sie nicht allein bis weit nach 1918 fester Bestandteil im Denken der französischen Rechten, sondern fand über die Beeinflussung de Gaulles durch Bainville schließlich auch Eingang in die französische Besatzungspolitik nach 1945.

Während die erste Tagungssektion ihren Schwerpunkt vor allem auf verschiedene Deutungen des Alten Reiches legte, ging die zweite Sektion der Frage der Kontinuität frühneuzeitlicher Institutionen im 19. Jahrhundert nach. Zunächst präsentierte Anke John (Rostock) Mecklenburg als besonderes Beispiel für den Fortbestand einer im Alten Reich wurzelnden altständischen Verfassung bis zum Ende des Kaiserreiches im Jahr 1918. Im Mecklenburger Kontext verknüpften sich dabei Traditionsbildung und positive Erinnerung an das Alte Reich und die von diesem garantierte Verfassungsordnung in doppelter Hinsicht mit den politischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts. So galt die altständische Verfassung Mecklenburgs ihren konservativen Befürwortern einerseits als Schutzschild gegenüber den unter Despotieverdacht stehenden Fürsten, und konnte andererseits in der Konstitutionalismusdebatte als Beispiel erfolgreicher organischer Verfassungsentwicklung dargestellt und so als Instrument gegen repräsentativ-parlamentarische Verfassungsprojekte der Liberalen verwendet werden. Der Fortbestand des frühneuzeitlichen Landtags und die positive Rückbesinnung auf das Alte Reich schufen so eine bemerkenswerte Kombination aus institutioneller Kontinuität und für die politische Auseinandersetzung verwendbaren Argumentationsmustern, welche im Alten Reich in seinem Verständnis als Rechtsordnung ihren Angelpunkt fanden.

Einen facettenreichen Blick auf den Umgang der ehemaligen Reichsstädte mit der für diese von wenigen Ausnahmen abgesehen durch den Verlust ihrer Eigenständigkeit besonders schwerwiegenden Zäsur von 1803/1806 bot Matthias Asche (Tübingen). Eine besonders reiche Erinnerung an das vergangene Reich fand sich dabei vor allem in denjenigen Städten, welche sich aus ihrer früheren Funktion als Sitz der Reichsinstitutionen heraus als „Erinnerungsorte“ in besonderem Maße anboten, so etwa Frankfurt, Nürnberg, Regensburg und andere mehr. Dieser Befund wurde nun um die bemerkenswerte Perspektive ergänzt, dass das Reich freilich in sehr unterschiedlichem Umfang auch in den mittleren und kleineren ehemaligen Reichsstädten Traditionslinien bildete, die nicht nur in der Kontinuität reichsstädtischer Symbolik, sondern vor allem auch sozialgeschichtlich in der fortdauernden Dominanz der etablierten städtischen Eliten greifbar wurden. Das Alte Reich blieb dabei nicht allein in Form von wehmütig-anachronistischem Gedenken an eine bessere Zeit präsent, vielmehr lieferten die reichsstädtischen Rechte und Freiheiten darüber hinaus auch Anknüpfungspunkte für städtische Forderungen nach einer bestimmten Rolle im neuen Staat, welche etwa auf eine gewisse Autonomiestellung oder eine möglichst weitreichende „Staatsunmittelbarkeit“ abzielten.

Ludolf Pelizaeus (Mainz) stellte mit Kurhessen das Beispiel eines Staates vor, der sich noch im 18. Jahrhundert durch Konflikte mit Kaiser und Reich hervorgetan hatte, sich aber nach dem Ende des Alten Reiches energisch bemühte, seinen kurfürstlichen Status möglichst unbeschadet in die neuen politischen Verhältnisse hinüberzuretten. Mit dem Blick zurück auf die Verhältnisse des Alten Reiches verband sich dabei im Vergleich mit anderen früheren Rheinbundstaaten eine deutlich ausgeprägtere Restaurationspolitik zu Lasten der rheinbündischen Reformbestrebungen. Vor dem Hintergrund der Konflikte mit Preußen und der Darmstädter Nebenlinie diente die direkte Anknüpfung an das Alte Reich und der Bezug auf den an sich nur noch leeren Titel eines Kurfürsten aber vor allem dem Versuch zur Behauptung der im Alten Reich etablierten Stellung des Territoriums, welche nach 1815 spürbar unter Druck geriet. Dies wurde auch aus dem Umstand deutlich, dass sich die Erinnerung an das frühneuzeitliche Reich sehr viel stärker an die Person Philipps des Großmütigen band und bindet als an die hessische Kurwürde aus der Schlussphase des Alten Reiches.

In der Darstellung der Entwicklung der thüringischen Staaten im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwarf Stefan Gerber (Jena) die These eines „vierten Deutschland“, welches seine Eigenständigkeit in direkter Kontinuität zum Alten Reich sowohl gegenüber den beiden deutschen Großmächten wie auch dem „dritten Deutschland“ bis 1918 zu behaupten vermochte. Dass dies selbst unter der ungünstigen Voraussetzung gelang, dass mit der Verfassung des Alten Reiches gerade der Garant der Eigenständigkeit der kleinen Reichsteile entfiel, war dabei auf die Substituierung der bisherigen „Reichsnähe“ durch den engen Bezug auf einen neuen Garanten aus dem Kreis der Mächtigen zurückzuführen, wie ihn zum Beispiel das Haus Reuß älterer Linie auch nach 1806 im österreichischen Kaiserhaus fand. Mit Blick auf die Regelung ihrer inneren Angelegenheiten bildete analog zum mecklenburgischen Beispiel auch für die thüringischen Staaten die Vorstellung des Alten Reiches als stabilem Rechtsgebäude den Ausgangspunkt. Ausgehend von Kontinuitäten in Bezug auf Herrschaftslegitimation, Verfassungs- und Rechtsordnung wurde auch hier zunächst der Weg der organischen Entwicklung der in der alten Reichsverfassung wurzelnden Strukturen betont, bevor es in einzelnen Staaten schrittweise über konsensuale Verfahren zu einer Ablösung der etablierten altständischen Verfassungsmodelle kam. Deutliche Verbindungen zum Alten Reich ergaben sich daher sowohl bezüglich der inneren wie auch der äußeren Entwicklung der thüringischen Staaten und verkörperten sich nicht zuletzt auch in dynastischen Instrumentarien und Traditionen.

Die dritte Tagungssektion befasste sich schließlich aus kulturhistorischer Sicht mit dem Nachleben des Alten Reiches in Form von Bildern und Symbolen. In kunsthistorischer Perspektive untersuchte zunächst Doris Lehmann (Bonn) die Mystifizierung des frühneuzeitlichen Reiches durch die Form der Reichsrezeption in der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts. Zwar fand sich ein facettenreiches Nachwirken des Alten Reiches, allerdings primär als Ausdruck fiktiver und idealisierter Konstruktionen. Beeinflusst von der Krise der Historienmalerei vor dem Hintergrund neuer Ansprüche an Realismus und Authentizität der Kunst veränderte sich im 19. Jahrhundert das Bildprogramm hin zu mythologischen Motiven und religiös aufgeladenen Themen (Darstellungen des bevorstehenden Todes, Schicksalsbilder, etc.). Der historische Kern der dargestellten Ereignisse erwies sich dabei als sehr uneinheitlich, da sich die Künstler in sehr unterschiedlichem Umfang mit dem historischen Ereignis hinter ihrem Sujet befassten, so dass oft nur rudimentäre, teilweise auch falsche oder willkürliche Bezüge zum historischen Gegenstand hergestellt wurden. Das frühneuzeitliche Reich blieb dabei auf ein Nischendasein beschränkt, indem sich das mit dem Paradigma des Niedergangs versehene Reich gegenüber der dominanten Romantisierung des mittelalterlichen Reiches für Künstler und Mäzene als deutlich weniger attraktiv erwies.

Der Frage der Kontinuität frühneuzeitlicher Reichssymbolik widmete sich Matthias Stickler (Würzburg), indem er anschaulich Terminologie, Heraldik und Insignien der beiden zentralen kleindeutschen „Reichsprojekte“ des 19. Jahrhunderts (die Pläne im Kontext der Revolution 1848/49 sowie die 1871 erfolgte Gründung des Kaiserreiches) in Bezug zu den entsprechenden Vorläufern im Alten Reich setzte. Dabei wurde rasch deutlich, dass zwar in vielerlei Hinsicht an das Alte Reich angeknüpft wurde, z.B. in der Wiedereinführung des Reichsadlers (1848 doppelköpfig, 1871 einköpfig), oder der Verwendung einiger staatsrechtlicher Begriffe („Reich“, „Reichstag“, „Reichskanzler“, etc.), dass die derart behauptete Kontinuität aber insgesamt äußerlich und vage blieb. Denn trotz aller Bemühungen ließ sich nicht verbergen, dass 1848 wie auch 1871 etwas Neues geschaffen wurde, und damit eben auch eine neue Form von Reichsidee und -symbolik notwendig wurde. Besonders deutlich zeigte sich die „Amalgamierung von Reichs- und preußischer Staatssymbolik“ in der Selbstdarstellung des Deutschen Reiches, zum Beispiel im nur unvollständig umgesetzten Projekt einer neuen Kaiserkrone und darüber hinaus in der Inszenierung des deutschen Kaisers als Haupt einer „föderativen Nation“ und Teil der deutschen Fürstenfamilie im Kreise seiner Mitmonarchen, wofür Versatzstücke der Tradition des Alten Reiches verwendet wurden.

Den Schlussakkord setzte Raymond Dittrich (Regensburg), der aus musikwissenschaftlicher Perspektive das Bild des Reiches am Beispiel der von Ernst Krenek in seinem Bühnenwerk mit Musik „Karl V.“ entwickelten Kaiser- und Reichsidee darlegte. Das 1933 vollendete Werk inszeniert einen reflektierenden Rückblick des abgedankten Kaisers auf sein Leben, welches Karl in der Sicht Kreneks die einmalige Chance zur Umsetzung der mittelalterlichen Reichsidee in neuzeitlichem Gewande bot, und in welchem Karl V. als gescheiterter Friedensfürst erscheint. Das Stück liefert dabei in der Deutung des Alten Reiches einen Anknüpfungspunkt für den österreichischen Ständestaat Engelbert Dollfuß´ und unternimmt gleichzeitig eine klare Abgrenzung vom nationalsozialistischen Reichsgedanken. Letzteres geschieht nicht zuletzt durch die verwendete und den Nationalsozialisten als entartet geltende 12-Ton-Komposition, die in direkten Bezug zur Thematik des Stücks tritt. Zusätzlich zur Einordnung und Positionierung Kreneks und seines Werks im politischen Kontext der 1930er Jahre erwiesen sich für den Historiker zudem überraschende Bezüge auf aktuelle Forschungsprobleme zu Karl V., so etwa zur Frage von Universalmonarchie und Nation.

Abgerundet wurde das Seminar durch einen Abendvortrag von Dominik Burkard (Würzburg), der den Spuren des Alten Reiches aus dem Blickwinkel der 1803 säkularisierten Germania Sacra nachging. Dabei wurde gezeigt, dass die Reorganisation kirchlicher Strukturen sowohl in Anknüpfung wie auch in Abgrenzung von den Mustern des Alten Reiches erfolgte, so im Aufgreifen der frühneuzeitlichen Reichskirche als Modell für neue Kirchenorganisationsprojekte. Demgegenüber war in Selbst- und Rollenverständnis der Kirche nicht mehr daran zu rütteln, dass die Kirche im 19. Jahrhundert „säkularisiert“ blieb und keine Forderungen mehr auf weltliche Herrschaftsrechte erhob, wie sie für die Germania Sacra des Alten Reiches elementar gewesen waren.

Die Frage von Kontinuität und Bruch bildete auch den Mittelpunkt der von Helmut Neuhaus (Erlangen) moderierten Podiumsdiskussion unter Beteiligung von Frank-Lothar Kroll (Chemnitz) und Anton Schindling (Tübingen). Im Ergebnis wurde trotz einiger Kontroversen um den tatsächlichen Umfang des vom frühneuzeitlichen Reich überkommenen Erbes festgestellt, dass das Reich trotz aller Zäsuren und Verwerfungen tiefe und bis heute erkennbare Spuren in der deutschen Geschichte hinterlassen hat (so etwa im Bundesrat als Verfassungsorgan sowie im ausgeprägten föderalen Denken der Deutschen). In scheinbarem Widerspruch hierzu war jedoch ebenfalls festzustellen, dass das Alte Reich den Menschen des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts trotzdem als das Pufendorfsche „corpus irregulare et monstro simile“ fremd und wenig fassbar geblieben ist.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass sich die Vielschichtigkeit der sehr anregenden Banzer Konferenz auch deutlich in ihren Ergebnissen widerspiegelt. So ist zunächst hervorzuheben, dass das Alte Reich im 19. und frühen 20. Jahrhundert überwiegend in Form anachronistischer und entstellter Vorstellungen weiterlebte. Als besonders bezeichnend ist dabei das lange nachwirkende Zerrbild zu nennen, welches das frühneuzeitliche Reich nach 1648 als zentrifugales, langsam aber unaufhaltsam zerfallendes Relikt einer überlebten Ordnung entwarf. Trotz des dominierenden Rückblicks auf das Alte Reich als (zu guter letzt) abgeschlossene, dunkle Epoche der deutschen Geschichte konnte dennoch der Nachweis geführt werden, wie stark gewisse Bestandteile, darunter sogar Strukturen und Institutionen des Alten Reiches, auch im 19. Jahrhundert noch als Folie zur Ableitung politischer Forderungen und Ansprüche dienen und dementsprechend für tagespolitische Themen herangezogen werden konnten. Dies galt sowohl mit Blick auf konservierende Kräfte (organische Verfassungsentwicklung, mecklenburgische Ständeverfassung, etc.), wie auch zur Begründung neuer politischer oder symbolischer Gegebenheiten, für die es im Alten Reich keine direkten Vorläufer gab (zum Beispiel in der Reichssymbolik des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns).

Als Fazit ergab sich für das Erbe des Alten Reiches also ein ambivalenter Befund. Zwar lebte das Alte Reich im ganzen 19. und auch im 20. Jahrhundert vielfach weiter, sogar bis hinein in die Verfassungsordnung der Bundesrepublik. Auf der anderen Seite dominierten bereits im 19. Jahrhundert die mehr oder weniger entstellenden und realitätsfernen Vorstellungen vom Reich, wie sie in der breiten Öffentlichkeit auch heute noch dominieren. Hier zeigen sich Gemeinsamkeiten sowohl zur traditionellen wie auch gegenwärtigen Sicht und Deutung des mittelalterlichen Reiches, die ebenso anachronistisch ausfällt, von dem jedoch im Unterschied zum frühneuzeitlichen Reich meist romantisierte oder gar folklorisierte Phantasiebilder entworfen werden. Die Tagung konnte am Ende auch einen Beitrag dazu leisten, neue Forschungsfelder und Gewinn versprechende Fragestellungen aufzuzeigen, da von nahezu allen Referenten ein auffallender Mangel an einschlägigen Forschungsarbeiten konstatiert wurde. Gerade vor dem Hintergrund moderner Fragestellungen zur Kultur- und Sozialgeschichte, aber auch zur politischen Ideengeschichte, bieten sich reiche Betätigungsfelder für künftige Forschungen, welche jedoch sehr viel stärker als bisher üblich die Epochenschwelle um 1800 überschreiten müssen.


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